Hans Peter Haller
Luigi Nono „Prometeo“, die letzten sechs Wochen vor der Uraufführung in Venedig.

Tagebuchaufzeichnungen sind meist persönliche Erlebnisberichte, die auch, wenig-stens ab und zu, emotional und einseitig betrachtet nicht immer sachlich sein können. Und gerade aus diesem Grunde möchte ich die Zusammenarbeit mit Luigi Nono an der Entstehung dieser Komposition mit einer Tagebuchaufzeichnung beschließen.


24.8.1984

11:52 Uhr Abfahrt in Freiburg mit dem IC nach Frankfurt. Komisches Gefühl im Magen, ein wenig Angst wie beim ersten Alleinflug mit einem neuen Flugzeugtyp.
Eine Spedition ins Ungewisse beginnt, Ziel Prometeo. Was erwartet uns, Rudi Strauß, Bernd Noll und mich in Venedig?
Tage, Monate, Jahre der Vorbereitung liegen zurück, das Ergebnis ist offen. Renzo Piano hat ein „Bühnenbild“, eine BARCA entworfen - was ist aus dem Modell entstan-den.
18:00 Uhr, Ankunft mit der Lufthansa in Venedig. Reservierte und von Gigi im voraus bezahlte Zimmer sind nicht frei. Es werden bessere Besenkammern ohne fließend Wasser angeboten.
Nono organisiert neue Unterkünfte, vornehm und unglaublich teuer. Nach einem nicht touristischen Fischessen mit Gigi, den Kollegen Volker Müller und Hermann Kaltenbach von der WDR Ü-Technik, Rudi und Bernd geht der Tag im holzgeschnitzten Bett zu Ende.
25.8.1984
Kein Kopfweh, der Wein war gut.
Die Biennale sucht neue, den Sparmaßnahmen angepasste Zimmer, die alten Etab-lissements waren zu teuer.
11:15 Uhr, Treffen mit Gigi in S. Lorenzo - faszinierend steht die halbfertige BARCA vor mir. Gewaltig emporstrebende Holzspanten, Pfeiler eines neuen Raumes im Raum - man vergisst die BARCA. Über eine schwankende Holzleiter erreichen wir die Plattform - Bühne - den Zuhörerraum - den Boden eines Raumes, der plötzlich zu leben beginnt.
Holz und Stahl im alten Steingemäuer von S. Lorenzo. Natürliche Materialien, kein Kunststoff. Die ersten Diskussionen beginnen.
Abb. A
Die BARCA von außen in fertigem Zustand. Die Ausbuchtungen sind Resonanzschalen für Solisten und Chor.
17:15 Uhr, Gigi überreicht mir die erste vollständige Partitur von Prometeo. Das Unglaubliche ist war: Prometeo ist theoretisch fertig, das Kind geboren, werden wir ihm zum Leben verhelfen? Nach erstem Durchlesen, besser Durchtasten, nur Fragen. Fragen an den Komponisten - erste Konturen im Nebel sichtbar.
26.8.1984
Ruhetag, ich gehe durch das mit Touristen überfüllte, verstopfte Venedig nach S. Lorenzo, um in Ruhe ein paar technische Angaben zu überprüfen. Die Pläne wurden noch mehrmals geändert. Wichtig! Keine Starrheit, sondern anpassungsfähig.
Gigi hat im Haus seiner Eltern am Canale Giudecca wieder eine engere Verbindung zu Venedig gefunden. Ich glaube, er ist glücklich, in dieser Stadt sein großes Werk „Prometeo“ vollenden zu können.
Treffe Gigi und arbeite am neuesten Struttura - Modell in seiner Wohnung. Zusammen mit Alvise Vidolin, ein Freund und Assistent Gigis, entsteht ein gutes zeichnerisches Schema für die Zuordnung der Lautsprecher in S. Lorenzo.
20:30 Uhr, Arbeitsessen im „Montim“ mit Alexandra Abbado und Silvia, Nonos Tochter. Alexandra und Gigi diskutierten, Silvia und ich hören zu, wobei ich nur die Hälfte verstehe (mein Italienisch!). Hoffentlich hat Gigi bald Ruhe und Zeit, sich ganz auf die Partitur von Prometeo zu konzentrieren.
Alexandra berichtet, dass unser Möbelwagen mit allen elektronischen Geräten vom italienischen Zoll festgehalten wird und erst morgen am 27.8. früh weiterfahren darf. Wir haben für den Transport der Geräte ein teures ATA Carnet erworben, damit der Möbel-wagen ohne Behinderungen die Grenzen passieren darf. Nichts - Europa eine Farce! Gute Nacht!
27.8.1984
Unser Wagen wird an der Grenze immer noch festgehalten, grundlose Schikane.
Unser kleines Honorar (für Rudi, Bernd und mich) liegt noch nicht bereit. Es sollte schon am Samstag ausbezahlt werden, damit wir keine DM in Lire umtauschen müssen.
11:00 Uhr, Alvise und ich beginnen bei Gigi mit der Ausarbeitung des live-elektroni-schen Teils der Partitur. Die Arbeit beginnt in Ruhe und mit viel gegenseitigem Verständnis. Bewegungsrichtung, Tempo und Auswahl der Lautsprecher bleiben offen. Wir sind uns einig, dass dies erst im fertigen Raum nach detaillierten Klangversuchen entschieden werden kann.
Der erste Teil ist in groben Zügen erarbeitet. Morgen soll es mit Teil 2 weitergehen.
17:00 Uhr, wir warten vergebens auf die Ankunft der elektronischen Instrumente in S. Lorenzo.
Die Struttura wächst, sie ist jedoch noch eine einzige Großbaustelle. An einen technischen Aufbau ist nicht zu denken.
Wichtig, dass man immer wieder den Raum von S. Lorenzo auf sich einwirken lässt. Man lernt gleichzeitig einen Teil von Prometeo kennen.
19:00 Uhr, Die Instrumente kommen an - Ruhe bewahren - es klappt schließlich heute doch noch mit dem Ausladen.
Der Zoll in Chiasso reklamierte einen Stempel, den es gar nicht gibt. Während normale Menschen nach dieser Erkenntnis in wenigen Stunden reagieren, benötigte der ital. Zoll 2 Tage.
Unsere Geräte sind kreuz und quer über die ganze Kirche mitten im Bauschutt und -Dreck abgestellt. Den uns zugewiesenen Abstellraum haben die Beleuchter der Scala besetzt - wer zuerst kommt........
28.8.1984
Die Biennale zeigt wieder ihr glorreiches Management. Laut Vertrag sollten wir am 24.8. die Hälfte unseres schon kleinen Honorars erhalten, damit wir, ich habe es schon erwähnt, wenig DM umtauschen müssen und keinen „größeren“ Lira-Betrag ausführen. Auf Wunsch erscheinen wir jeden Morgen im Büro der Biennale, um die Geldanweisung abzuholen. Negativ, wir lernen dafür zwei italienische Worte, die wir nie vergessen werden: „domani, dopo domani“ - morgen,übermorgen. Heute weitere Steigerung: „force dopo domani“ - vielleicht übermorgen. Wenn Prometeo nicht ein so fantastisches Stück zu werden scheint und Gigi ein so guter Freund ist, meine Abreise, zumindest meine Gleichgültigkeit für die Arbeit in Venedig wäre gesichert. Es gibt bei der Biennale einen Chef der Musik: Carlo Fontana - nur ist er nie da. Die verbleibenden Könige der Biennale sind künstlerisch kaum fähig, ein Projekt wie Prometeo allein zu organisieren. Mit Gigi arbeiten wir weiter an der Partitur zweiter Teil: Gatesteuerung. Nono hat diese Funktion sehr gut verstanden, wenn also auch die Interpreten die von ihm genau vorgeschriebene Dynanik und Spielanweisungen einhalten, kann eine neue Klangwelt entstehen: Zerbrechen des Klanges - Inseln, die über die Live-Elektronik miteinander verbunden werden und trotzdem ihre eigene Aussage nicht verlieren.
17:30 Uhr. Renzo Piano kommt, um sein Werk zu kontrollieren. Er ist nicht nur ein hervorragender Architekt, sondern ein Künstler, der auf der einen Seite sehr eigenwillig gestaltet, sich aber auch im gegebenen Falle in andere Ideen einzuordnen vermag.
Massimo Cacciari, Textautor des Prometeo, ja, die ganze Prominenz ist da. Es wird diskutiert - vielleicht zu viel. Ich ziehe mich zurück, trinke mit Bernd ein Bier und fahre mit dem Vaporetto nachdenkend und ohne Touristen den „Canale“ hinauf und hinunter. Ich bin ein wenig glücklich über den schönen Abend. Die Moskitos stechen schrecklich.
29.8.1984
Wieder kein Geld, ma certo domani!
In S. Lorenzo wird weiter gebaut. Vor Samstag werden wir mit unserem Aufbau nicht beginnen können.
Spät abends bin ich mit Gigi allein in S. Lorenzo. Zum ersten Mal „Stille“ im Raum!
Wir führen einige Proben durch. Der Nachhall ist groß; trotzdem ist aus jeder Höhe und Entfernung im Raum (Struttura) leise Sprache zu verstehen.
Es gibt zwei verschiedene Räume innerhalb und außerhalb der BARCA. Wie können wir diese Räume nutzen?
Fisch-Abendessen - phantastisch.
30.8.1984
10:00 Uhr bei Gigi. Am Modell lege ich mit Fähnchen die vorläufigen Lautsprecherpositionen fest. Wir besprechen Allgemeines.
12:00 Uhr, die Casa Risparmia di Venezia hat Anweisung der Biennale. Allerdings ist für mich nichts da. Warum? Ich flehe den Bankbeamten an, einmal bei der Biennale nachzuforschen. Mein Flehen wurde erhört, er wurde fündig. Ein kleiner Datenteufel hat Haller in Baller verwandelt, und das steht nun mal nicht im Vertrag. Nach langem Telefonat ändert der Bankbeamte persönlich und unbürokratisch den Namen - meine Anerkennung.
Nachmittags wird endlich entschieden, dass wir morgen gegen 16:00 Uhr aufbauen, allerdings ohne Lautsprecher, da für diese die Spezialhalterungen noch nicht fertig sind. Man lernt - vor allem zu warten.
31.8.1984
Ein Erlebnis besonderer Art: Bei Gigi zu Hause eingetroffen, werden wir von einem kleineren Motorboot abgeholt, das uns und das Modell nach S. Lorenzo bringen soll. Nach kurzer, feuchter Fahrt (hohe Wellen im Canale Giudecca) verlässt uns der Bootsfahrer, Gigi übernimmt das Steuer und mit Capitano Nono geht‘s über S. Lorenzo nach Murano, wo wir über Gläser für die Glocken diskutieren. In Murano gibt es eine große Auswahl von Glaswaren. Zusammen mit Alexandro (Architekt von R. Piano) finden wir sechs Lampenglocken, die wir nächste Woche klanglich erproben wollen. Nach der etwas unruhigen Fahrt - Capitano Nono gesteht uns, dass das Ruder zu viel Spiel hat - erreichen wir S. Lorenzo. Und immer wird diskutiert, ob an Land, ob auf dem Wasser.
Langsam tasten wir uns im Halbdunkel weiter.
Wenn der Lärm der Arbeiter (Bohren, Schleifen, Schweißen) einmal aufhört, kann man vielleicht besser nachdenken. Die Biennale meidet man am besten, es gibt nur Ärger über das Nichtwissen einiger Leute.
Gegen Abend kommen unsere Spezialhalterungen für die Lautsprecher an, nach der Modellvorlage werden sie an verschiedenen Orten montiert. Wir hängen probeweise 5 Lautsprecher auf und müssen feststellen, dass ein Sicherheitsring unter dem Metallarm notwendig wird. Bei leichter Entlastung der Lautsprecher rutschen die Halterungen an den Rohren ab.
Nach sechs Tagen hat der Aufbau begonnen - wieder ein Lichtstrahl im Halbdunkel.
1.9.1084
Wie wird dieser Monat enden???
Bei Gigi arbeiten wir wieder an der Partitur. Wir wollen die theoretische Arbeit heute abschließen und die Programme (Kombinationen) für den Klangumformer fixieren.
Die Proben mit den Solisten haben begonnen.
14:00 Uhr, wir haben die Partitur durchgearbeitet und gehen (fahren) nach S. Lorenzo. Für unsere elektronischen Geräte ist nicht genügend Platz, doch Nono besteht darauf, dass wir sie sichtbar auf der Plattform, wie besprochen, aufbauen.
Podest muss erweitert werden. Aufbau wird auf den 4.9. verschoben.
Langsam muss ich mich fragen: wann und wie werden wir mit der Vorbereitung fertig?
Architektur hin, Architektur her, Prometeo soll auch „hörbar“ aufgeführt werden.
Immer mehr verstehe ich, warum Nono keine Regie wollte, denn unmerklich schleichen sich bühnentechnisch szenische Dinge ein, die er gerade vermeiden wollte.
2.9.1984
Freier Tag, ich treffe mich mit den Solisten und dem Freiburger Solistenchor und beneide sie, dass sie sich in aller Ruhe auf Prometeo vorbereiten können.
Nachmittags ist auf dem Canale Grande die „regatta storica“, ein seltsames, aber farbenprächtiges Schauspiel.
Viele Menschen, viel feuchte und warme Luft.
3.9.1984
9:00 Uhr, in S. Lorenzo Verkabelung der Lautsprecher. Wir kämpfen gegen den Schönheitsfanatismus der Architekten, wir müssen praktisch und sinnvoll arbeiten.
Noch haben viele nicht ganz begriffen, dass die Live-Elektronik Teil der „Tragedia del‘ ascolta“ ist.
Ich ziehe mich in Gigis Wohnung zurück und beginne mit dem Lesenlernen der überdimensionalen Partitur.
Jetzt nur nicht andauernd diskutieren - mehr studieren. Die Arbeit macht wieder Freude. Die ersten Programme nehmen Form an. Ich telefoniere mit Rudi, wir treffen uns und klären die Lautsprecherzuordnungen (24 an der Zahl).
Frau Damß, meine Freiburger Mitarbeiterin, trifft in Venedig ein. Gemeinsames Abendessen mit ihr, Rudi und Bernd.
4.9.1984
Es wird wahr, unser Tisch ist fertig. Die Geräte werden entstaubt und auf die Plattform der Barca gebracht. Der Aufbau ist neun Tage verspätet. Was sind neun Tage im Leben, kann man da mit Humor fragen Für die Vorbereitung eines Prometeo allerdings sehr viel.
Nachmittags fahre ich mit Capitano wieder nach Murano, um neue Glasglocken auszusuchen. Venini ist eine fantastische Firma. Doch es stellt sich am Ende heraus, dass Murano-Glas für unsere Zwecke unbrauchbar ist, da nur Bleikristallglas den langen Ausklingvorgang besitzt. Murano-Glas ist bleifrei. Wenn es auch nicht gerade stilvoll ist, wir müssen die „Vetri“ mit unseren Freiburger Käseglasglocken realisieren.
Das Halaphon wurde auf der Fahrt beschädigt, Funktion gleich Null. So wird es uns nie langweilig.
5.9.1984
Ich ziehe mit meiner Partitur von Gigis Wohnung nach S. Lorenzo um, es tauchen immer wieder mit den Geräten Fragen auf.
Bernd bringt das Halaphon in Ordnung und stellt dabei einen Konstruktionsfehler der Herstellerfirma fest. Der Aufbau geht weiter.
Frau Damß verhandelt mit der Biennale, die, wie immer, die Heinrich-Strobel-Stiftung zu beschummeln versucht.
Wo ist der zuständige Direktor der Biennale, Signor Fontana?
Solisten leihen bei mir Geld, da die Biennale nicht vertragsgemäß bezahlt. Unterschrift Fontana fehlt !!!
Verhandlungen von Frau Damß sind erfolgreich. Der Vertreter der Biennale empfiehlt ihr, die SCALA, Milano, zu beschummeln!!! Mafia!
Der Aufbau geht weiter - erste Töne über Lautsprecher hörbar. Noch zu viel Lärm im Raum, um sich ein Urteil über die Akustik zu bilden.
Weiterhin tasten wir im Dunkeln, doch immer neue, kleine Lichtblicke.
6.9.1984
Wir bauen weiter auf, alle Geräte funktionieren - nach diesem Bau-Dreck kaum glaubhaft. Die Lautsprecher werden verdrahtet, Die STRUTTURA (Barca) ist immer noch nicht fertig. Wir können keine Mikrofone aufstellen. Nachmittags ein letzter Versuch, doch noch in Murano „klingende“ Gläser zu finden. Es bleibt bei den Käseglocken. Bis auf die 6 Bodenlautsprecher unter der Struttura ist alles fertig verdrahtet, der Computer (nur zur Steuerung der Geräte) angeschlossen. Wenn der Bauschutt weg ist, die Bauarbeiten abgeschlossen sind, können wir mit den akustischen Proben beginnen.
Ich versuche die verschiedenen Halaphonprogramme aufzuarbeiten und erlebe dabei, leider nur gedanklich, eine unglaubliche Klangwelt. Einen Raum im Raum haben wir noch nie akustisch erlebt, ausgetastet.
7.9.1984
Bis 15:00 Uhr ist in S. Lorenzo wegen Bauarbeiten für uns gesperrt. Wir haben soweit alles verdrahtet und könnten nun endlich mit der Probenarbeit beginnen, doch wegen der Bauarbeiten dürfen die Mikrofone noch nicht verkabelt und eingerichtet werden. Am späten Nachmittag erste Lautsprecherprobe mit Gigi. Es stellt sich heraus, dass ein Richtungshören nur bei der getrennten Aufschaltung einzelner Lautsprecher möglich ist. Sobald 2 oder 3 Lautsprecher gleichzeitig eingesetzt werden, und dies bei mittlerer Lautstärke, wird die Klangortung sehr schwierig, wenn nicht unmöglich. Wir müssen die Lautsprecher noch besser, anders ausrichten.
Kurze Probe: Mahler-Sinfonie von Kassette, alle 24 Lautsprecher langsam bis volle Aussteuerung. Man bekommt Angst, dass S. Lorenzo einstürzt.
Diese Klangprobe war laut Zeugen bis zum Campo S. Formosa zu hören!
Endlich klingt der Raum - noch fremd, doch nicht schlecht.
8.9.1984
Wieder bis 16:00 Uhr Bauarbeiten. Ich fahre früh morgens nach Torcello. Um diese Zeit kann ich noch ohne Touristen die wundervollen Basiliken von Santa Maria Assunta und Santa Fosca in Ruhe auf mich einwirken lassen. Ich habe Zeit!
16:00 Uhr, erste Probe mit Mikrofon.
Genaue Platzierung der Lautsprecher.
Probe mit Halaphon - die Klangbewegung ist gut zu hören. Wir versuchen nicht nur die horizontalen, auch die vertikalen Klangebenen auszutesten.
Positives Ergebnis, wir freuen uns - der Nebel wird wieder etwas lichter.
9.9.1984
Besuche morgens die sehr interessante Ausstellung von Emilio Vedova, Freund und Berater Gigis - auch für Prometeo.
Nachmittags Probe mit Ingrid und Monika (Sopran). Erstes Ergebnis: Stimmen, pianissimo und piano, klingen relativ trocken im Innenraum (Struttura), sind überall zu hören und gut zu orten. Zweites Ergebnis: werden die Stimmen lauter, also mezzoforte bis fortissimo, klingt der Außenraum, die Kirche mit ihrem großen Nachhall mit. Im Innenraum sind Klangbewegungen trotzdem zu hören.
Es ist faszinierend - eine Stimme singt in einem trockenen Innenraum. Gleichzeitig, je nach Dynamik, wird ein zweiter halliger Raum teils von oben, teils von unten und den Seiten zugemischt, was zu völlig neuen Klangstrukturen führt.
Frage vom 28.8.1984 beantwortet.
Durch dieses neue Klangergebnis bereichert, gehen wir gemeinsam ins Montim, wo wir auch den Schriftsteller Heiner Müller, Sprecher in Prometeo, beim Abendessen kennen lernen.
10.9.1984
Noch 15 Tage bis zur Premiere.
Wenn ich an die Arbeiten an der Struttura denke - es wird nächste Woche noch viele Stunden kosten.
16:00 Uhr, Probe mit 3 Solo-Streichern (Viola, Cello, Kontrabass). Die Besetzung ist von „Guai ai geledi mostri“ her bekannt, wir müssen die vorbereiteten Filtereinstellungen ergänzen, um in den veränderten Akustikverhältnissen das Klangkontinuum zu realisieren. Leider wenig Zeit - kaum Ruhe im Raum. Weit schwieriger wird die folgende Chorprobe. Nono führt die Sänger zuerst in die Raumakustik ein, was zum besseren Dynamikverständnis hilft. 4-faches Pianissimo ist eine relative Bezeichnung für die möglichst kleine Dynamik, in diesem Raum kann man dieses äußerste Pianissimo noch hören!!!
Die Elektronische Klangumformung ist nur bis mezzoforte richtig hörbar, danach überdeckt der Außenraum alle klanglichen Feinheiten. Man lernt täglich dazu.
Bleibt nur noch die große Unbekannte: wie werden die vier Orchester (13 Musiker pro Orchester) im diesem Raum klingen?
11.9.1984
Fortsetzung der Proben - wir beginnen, soweit es die Zeit erlaubt, mit der Feinarbeit.
Sprecher und Filter - sinnvolle Klangselektion und Raumaufteilung. Die Funktionen der Klangumformung werden immer komplizierter - noch überschaubar.
Weiterhin Einzelproben, jedoch immer wieder durch Störgeräusche der Arbeiter unterbrochen. Die Struttura ist noch lange nicht fertig!!! 14 Tage Verzug!
Immer, wenn wir eine gute, neue Klanggestalt gefunden haben, beginnt eine Schlagbohrmaschine zu rumoren.
12./13.9.1984
Ich fasse die nächsten Tage zusammen. Es wird geprobt.
Eine Situation scheint mir bemerkenswert, sie ist auch bezeichnend für unsere Arbeit: Wir haben in Firenze bei der Aufführung von „Omaggio a Kurtág“ einige Klangkombinationen gefunden. Im Interludium 1 - gleiche Besetzung - wollten wir dieses Klangergebnis auch für Prometeo realisieren.
Der Raum!!!
Keine Live-Elektronik für das erste Interludium - nur Originalklang der Instrumente und Altstimme.
Für mich wieder eine weitere Bestätigung, dass der Raum entscheidend auf die Interpretation einwirkt - Klanggestalten entwickelt, die in anderen Räumen nur durch zusätzliche Umformung verwirklicht werden können. Nono streicht endgültig die Elektronische Klangerweiterung für das Interludium. Ich freue mich über seine Entscheidung.
14./15.9.1984
Man sollte über Proben nicht viel schreiben, sie sind immer teils angenehm, teils unangenehm. Dies bezieht sich nicht nur auf den Lern- und Arbeitsprozess, sondern auch auf menschliche Qualitäten.
Die Zeit wird knapp, wir werden nervös, wenigstens einige. Dies ist unvermeidbar, wenn ein persönliches Engagement für eine „Werksentstehung“ vorhanden ist.
Heute abend haben wir den Prolog und Isola 1 zum ersten Mal in Originalbesetzung -? - durchgespielt.
50 Minuten.
Warum fehlen immer einzelne Solisten?
Schade für die Sache.
Der Fisch bei „Corte Sconta“ ist hervorragend - leider bleiben zu viele Reste, da Massimo Caccicari, der die besten Bissen angeblich in den Resten (Gräten) findet, nicht anwesend ist.
16.9.1984
Freier Sonntag, Zeit, um in aller Ruhe in S. Lorenzo die Programme für den Klangumformer vorzubereiten. Renate, Alvise, Rudi und Bernd stehen an den Mikrofonen, um die 38 Gate-Programme auf ihre Funktion zu überprüfen. Die Arbeit macht Freude. Der WDR beginnt mit dem Aufbau.
Erste Probe zu Isole 3, 4 und 5. Gegenseitige Steuerung über Gates. Einführende Erklärungen, damit die 11 Vokal- und Instrumentalsolisten das Mikrofon als Instrument behandeln.
Mühevoller Anfang, aber erste interessante Klangstrukturen, Klangzerbrechen.
Abendprobe wegen Kurzschluss in den alten Pultleuchten der Scala gestört. Wir hören die Inseln 3,4 und 5 ohne Klangumformung.
Durch dieses Liveklang-Hören entstehen neue Ideen für die Klangsteuerung - Verfeinerungen.
Ein Kurzschluss hat auch seine guten Seiten.

Wenn ich vom Hören der Musik Nonos spreche, so bleibt die Frage offen, kann ich diese Musik wirklich hören?
„Tragedia dell‘Ascolto“ nennen Nono und Cacciari Prometeo.
Nono vermeidet nahezu alle Wortverständlichkeit - beschränkt das Dramatische auf die natürlichen Artikulationsbewegungen der Interpreten. 2 bis 3 „Bühnengänge“ der Solisten wirken verloren.
Erst wenn es dem Zuhörer gelingt, die feinsten Klangmutationen, Klangbewegungen Nonos wahrzunehmen, beginnt das Hören dieser Musik.
Keine Analyse der Komposition - nur die Frage nach dem Hören.
Ich betreibe das Handwerk „Klangregie“, habe ich dabei die Möglichkeit, richtig zu hören?
Sind es nicht abeitsbezogene Prioritäten, die mich beeinflussen? Es gibt in diesem Werk Momente, da fühle ich mich berauscht. Wenn das Euphonium zu spielen beginnt, höre ich aus dem DIES IRAE: „Tuba mirum spargens sonum.....mors stupendit et natura....“
Wird die Musik Nonos leise, noch leiser, empfinde ich sie noch dramatischer, aufgewühlter, bewegter.
Ich zweifle etwas an meinem Hörvermögen.
Klangmutationen empfinde ich manchmal räumlich intensiver als gesteuerte Klangbewegungen - sollten wir durch die elektronische Klangerweiterung beide mehr verbinden?
Mit Frau Damß gehe ich langsam durch die menschenleeren Gassen Venedigs zum Hotel. Es ist sehr schwül, erstes Wetterleuchten. Ein Vino beruhigt etwas die fragenden Gedanken.
18.9.1984
Schwere Gewitter, alles nervös, die Luft und auch wir sind mit Hochspannung geladen.
Schlechte Probe. Mein Zimmer steht unter Wasser. Ich schiebe das Bett an eine trockene Seite und nehme gegen die akustische Folter der von der Decke fallenden Wassertropfen eine Schlaftablette.
19./20.9.1984
Proben!!! Endlich teilt Gigi die Proben nach musikalischen Gesichtspunkten selber ein. Wenn auch ein Zeitdurcheinander, wir können mit den Soli und dem Solistenchor allein arbeiten.
Gigi und auch wir finden für kurze Zeit wieder zurück zur Ausarbeitung von sensibleren und verfeinerten Klangstrukturen. Das Orchester ist technisch sehr gut (Europäisches Kammerorchester) aber unkonzentriert. Man liest während der Proben Bücher und unterhält sich, die Proben werden teilweise sehr gestört. Schade - es kommt immer wieder zu unschönen Szenen, die die Nervosität steigern.
21.9.1984
Proben mit den Soli - es geht weiter.
Abends Versuch eines Durchlaufs. Probenende 22:00 Uhr. Es gibt immer wieder Verspätungen. Ganz normal!
Während der letzten beiden Soli-und Chorteile, es ist inzwischen 22:00 Uhr, steht das Orchester (die Orchester) einfach auf und trampelt lautstark davon. Die Stimmung ist dahin, eine anfänglich gute Probe endet in Nervosität und Unstimmigkeit.
Ist so etwas notwendig? Das Orchester wird gut bezahlt!
22.9.1984
Nachmittags nochmals Solistenprobe mit genauen Informationen, welche Teile an welchem Mikro interpretiert werden.
21:00 Uhr, Probe mit Publikum - ein Durchlauf des Werkes, der recht gut gelungen ist.
Auch orchestrale Teile kling gut und unterliegen den gleichen dynamischen Bedingungen. Noch kleine Unklarheiten.
Prometeo ist ein großartiges Werk. Dauer: 2 Stunden und 46 Minuten. Keine Pause, das Publikum wird leider unruhig.
23.9.1984
Nono kürzt die Komposition, Dauer nun ca. 2 1/2 Stunden.
21:00 Uhr, zweite Durchlaufprobe mit Publikum.
Die Isole 3, 4 und 5 müssen abgebrochen werden, die Solisten stehen zum Teil zu weit vom Mikro weg, dadurch arbeitet die Gatesteuerung nicht einwandfrei.
Leider ist die bis dahin gut verlaufene Probe in ihrer Spannung abgesunken.
Wir vereinbaren für den Tag der Uraufführung mit den Solisten nachmittags nochmals einen technischen Probentermin, damit das „Spiel“ mit dem Mikrofon besser wird.
Wir sind alle müde und freuen uns auf einen freien Tag.
Abb. B
Das Banner im Zentrum Venedigs zeigt die baldige Premiere Prometeo an.
24.9.1984
Meine Nervosität ist zu groß, um den freien Tag mit einer Inselfahrt auszufüllen. Ich freue mich, dass Christof Bitter angekommen ist - wir essen zusammen, die Unterhaltung hilft doch sehr, ein wenig Entspannung zu finden. Nach einem gemeinsamen Besuch der Gräber von Igor und Vera Strawinsky auf S. Michele - Treffen mit Frau Damß und Besprechung einiger Fragen betreffs Biennale Venezia, was im Grunde zwecklos ist, denn im Büro der Biennale ist alles durcheinander.
25.9.1984
Kurz vor 8:00 Uhr ruft Gigi an und bittet mich, nach S. Lorenzo zu kommen. Wir ändern wenige Programme - gefährlich, denn wir können vor dem Konzert für diese Teile keine akustische Probe mehr haben. Wir sind uns einig, dieses Risiko einzugehen.
Die technische Probe am Nachmittag verläuft normal - nur schnell weg von S. Lorenzo - eine Stunde noch ausruhen.
Abb. C
21:00 Uhr, Premiere - Uraufführung.
Beginnt zuerst mit dem üblichen Durcheinander - keine reservierten Karten vorhanden. Renzo Pianos Kommentar: „Black chairs“, das sind die schwarzen Stühle, die für die Interpreten und uns zur Verfügung stehen. Es sind glücklicherweise genügend vorhanden, sie werden an jedem freien Platz aufgestellt. So bekommt der Architekt der Struttura auch noch einen Platz.
Der Pianissimo-Anfang erhält eine neue Klangqualität: aufgrund des Hochwassers heulen mit dem Einsatz von Claudio Abbado die venezianischen Sirenen, lang und lautstark.
Es ist wunderbar, dass Nono nicht abbricht. Auch die Umwelt gehört nach S. Lorenzo, zu Prometeo.
Unsere Programmänderung hat sich gelohnt. Wir sind vor allem vom Klang der Streichersoli (Kontinuum) in Isola 1 positiv überrascht.
Die 2 1/2 Stunden gehen ohne größere Pannen vorüber.
Für mich ist die kreative Arbeit abgeschlossen - es beginnt die Reproduktion - die Konzentration auf den „richtigen Regler“, den „richtig gesteuerten Ablauf“ - das Hoffen, dass alle „Geräte richtig funktionieren“.
Die zweite Arbeitsphase für Prometeo hat begonnen. Wir sind nicht mehr unter uns, die Zuhörer erwarten und verlangen ein Ergebnis: Prometeo.......
Nono ist verändert - man kann nicht mehr abbrechen, korrigieren, diskutieren, verändern, verbessern, schimpfen und lachen.
Es ist, als ob eine Maschine abläuft, in die man wohl akustisch eingreifen kann, deren Mechanismus selbst aber nicht mehr anzuhalten ist.
Für mich wird an diesem Abend die traditionelle Konzertform fragwürdig, aber wie anders?
Sicherlich werden auch die weiteren 5 Abende in gewohnter Weise ablaufen.
Die Arbeit an und für Prometeo ist beendet.

(Ende meiner Tagebucheintragungen)